Erziehung zur Barbarei? Über den Einfluss pädagogischer Ideale auf nationalsozialistische Verbrechen
Vortrag von Prof. Dr. Jürgen Nielsen-Sikora

Das Barbarische im Menschen: Vortragsreihe über Gewalt und Zerstörung
Angesichts des aktuellen Kriegsgeschehens in der Ukraine eröffnen wir eine Reihe von Vorträgen und Gesprächen mit Wissenschaftler*innen, in denen in Anlehnung an jene Phänomene, die bedauerlicherweise während der extremen Kriegsereignisse augenfällig werden, über mögliche Entstehungsprozesse von Gewalt sowie einer „Ethik der Gewaltlosigkeit“ (Judith Butler) diskutiert werden kann. Es geht uns darum, ein Format zu schaffen, in dem verstörendes menschliches Verhalten, wie Barbarei, Terrorismus, Zerstörung, Unterdrückung, Manipulation oder Missbrauch – insofern dies überhaupt möglich ist – verortet und sich der Thematik angenähert werden kann. Aus unterschiedlichen Perspektiven und Untersuchungen – philosophisch, soziologisch, psychologisch oder historisch – betrachten wir ein komplexes Geflecht menschlicher Lebe- (oder Sterbe-) formen, die das „barbarische Temperament“ (Stjepan Mestrovic) sichtbar macht. Auch extreme Zustände von Verlust, Begehren, Liebe, Hass oder Eifersucht können wichtige Hinweise im Erkennen von kriegerischem, vereinnahmendem oder friedlichem Verhalten sein.
Der Vortrag von Jürgen Nielsen-Sikora geht der Frage nach, welchen Einfluss pädagogische Ideale auf die Verbrechen der Nationalsozialisten hatten. Welche Erziehung genossen die Täter selbst? Hatte diese Erziehung Einfluss auf ihr Weltbild? Abhärtung, Dressur, Sadismus, Grausamkeit: Welche Folgen hat Erziehung, wenn sie sich diesen Idealen verschreibt? Lässt sich von einer Erziehung zur Barbarei sprechen? Die Ideale der NS-Erziehung sind jedoch auch 1945 noch längst nicht ad acta gelegt. Sie wirken in den Familien, den Heimen und Verschickungsheimen über Praktiken einer so genannten „Schwarzen Pädagogik“ weiter und zum Teil bis heute nach.
Jürgen Nielsen-Sikora (*1973) studierte Philosophie, Psychologie und Pädagogik zu Köln. Anschließend promovierte er 2002 in Köln und habilitierte 2011 in Hildesheim. Bis 2012 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und im akademischen Rat an der Universität zu Köln, und bis 2014 bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin. Seit 2014 ist er an der Universität Siegen als apl.-Prof. für Bildungsphilosophie tätig. Er leitet das Hans Jonas-Institut und ist Vorsitzender des Hans Jonas-Zentrums. Er publizierte zur europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert (Europa der Bürger 2011, Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus 2009) und zu moralphilosophischen Themen (Hans Jonas-Biografie 2017, Jonas Handbuch 2021).